Kambodscha
«Im Augenblick gibt es auf dieser Welt keinen Ort für uns.»

Wanderarbeiterin Kuy Sreyny (20) und ihre Tochter
Als am 24. Juli die internationalen Presseagenturen den Ausbruch der Kampfhandlungen zwischen Kambodscha und Thailand vermeldeten, beschleunigte sich, was bereits in den Wochen zuvor seinen beunruhigenden Anfang nahm: Die massenhafte Rückkehr Hunderttausender von Wanderarbeiterinnen und -arbeiter, die aus Thailand zu ihren Familien reisen mussten. Laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) sind zwischen Juni und August über 800’000 kambodschanische Staatsangehörige über die offiziellen Grenzposten zurückgekehrt – die Dunkelziffer liegt gemäss IOM vermutlich sogar noch deutlich höher.
Eine typische Bewegung in Krisenzeiten, die in diesem Fall allerdings dramatische Auswirkungen hat. Denn sie kehren in einen desolaten Arbeitsmarkt zurück, der in keiner Weise auf eine massenhafte Remigration vorbereitet ist.
«Der kambodschanische Arbeitsmarkt ist ein Paradoxon», sagt darum auch Tola Mouen, Geschäftsführerin des Center for Alliance of Labor and Human Rights dem englischen Guardian. Die offiziellen Zahlen suggerieren zwar nahezu Vollbeschäftigung, verdecken aber die Realität. Mehr als 14 % der Arbeitnehmenden verdienen weniger als 2,15 Dollar pro Tag, und 53 % arbeiten in unsicheren Beschäftigungsverhältnissen. «Angesichts dieser Zahlen – und des Ausmasses der Verschuldung der Haushalte – sehe ich nicht, wie Kambodscha alle zurückkehrenden Arbeitsmigrantinnen und -migranten aufnehmen könnte, nicht einmal die Hälfte der 1,2 Millionen in Thailand», so Mouen.
Und es wird alles noch viel schlimmer: Aufgrund der Unsicherheit bezüglich der Auswirkungen der problematischen amerikanischen Zollpolitik ist die kambodschanische Wirtschaft noch stärker als zuvor unter Druck. Die Zölle werden Hunderttausende von Arbeitsplätzen gefährden, vor allem in der kambodschanischen Bekleidungs-, Schuh- und Reiseartikelindustrie, die nach Angaben der UNO eine Million Menschen, meist Frauen, beschäftigt. Die Textilindustrie bildet die Grundlage der kambodschanischen Wirtschaft.


Kambodschanische Arbeiterinnen auf dem Weg in eine Textilfabrik unweit des Smiling Gecko Campus. Ihre Arbeitsbedingungen sind bereits heute problematisch, dürften sich in nächster Zeit jedoch noch weiter verschlechtern.
Die USA sind der grösste Einzelabnehmer von textilen Waren. Im Jahr 2024 entfielen auf sie mehr als $5,2 Mrd. oder 38,5 % der gesamten Exporteinnahmen Kambodschas. Das Land exportierte Waren im Wert von 12,7 Milliarden Dollar in die USA und importierte knapp 322 Millionen Dollar. Ein Handelsüberschuss, der das Land ins Fadenkreuz von Trumps irritierender Zollpolitik brachte.
Etwa 360’000 Beschäftigte des verarbeitenden Gewerbes in Kambodscha sind direkt von der US-Nachfrage abhängig, und viele von ihnen laufen Gefahr, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, wenn die Zölle in Kraft bleiben.
«Wir sprechen hier von einem beträchtlichen Verlust», zitiert der Guardian Massimiliano Tropeano, einen Berater für den Bekleidungssektor und Mitglied der Europäischen Handelskammer in Kambodscha. «Fabriken, die amerikanische Marken beliefern, werden erheblich betroffen sein.» Er glaubt, dass bis zu 150’000 Arbeitsplätze in der Textilindustrie verloren gehen könnten.
Diese Zahlen mögen abstrakt und schwer einzuordnen sein. Wir möchten an dieser Stelle darum unbedingt direkte betroffene Menschen aus unserer Region zu Wort kommen lassen.
«Wir kehrten hier in den Distrikt zurück, nachdem ich von den Kämpfen an der Grenze gehört hatte und mir Sorgen um meine Familien machte», sagt Sreyny, die wir im Rahmen unserer ersten spontan einberufenen Hilfsaktion nach ihrem Befinden befragt haben. «Wir sind seit einigen Wochen zurück, aber es gibt einfach keine Arbeit. Wo sollen wir hingehen? Im Augenblick gibt es auf dieser Welt keinen Ort für uns.»

Heurn (31) sieht sich einer ungewissen Zukunft gegenüber. Auch er kam in den Sameakki Mean Chey Distrikt zurück. Ohne Unterstützung und arbeitslos.
Ganz ähnlich äussert sich auch Hen Heurn (31), den wir ebenfalls bei der Verteilung der Hilfsgüter gesprochen haben. Bis zum Ausbruch der aktuellen Grenzstreitigkeiten arbeitete er auf einem Markt in Thailand. Dann schickte ihn sein Arbeitgeber zurück, weil sich die thailändischen Kundinnen und Kunden zunehmend negativ über kambodschanische Arbeitskräfte äusserten.
«Solange ich in Thailand gearbeitet habe, konnte ich regelmässig ein bisschen Geld schicken. Um die Familie zu ernähren und um Schulden zu bezahlen. Jetzt stehe ich vor dem Nichts und muss auf ein Wunder hoffen. Vielleicht kann ich bei Smiling Gecko arbeiten.»

Es tut unendlich weh, diese Hoffnung enttäuschen zu müssen. Es ist praktisch auszuschliessen, dass Menschen wie Sreyny und Heurn in unserer Region Jobs finden, die ihren Verlust auch nur ansatzweise kompensieren könnten. Gleiches gilt für staatliche Unterstützung, die es in unserer Region schlicht nicht gibt. Aber wie sollen sich diese Menschen sonst über Wasser halten?
Ganz ehrlich? Wir wissen es nicht. Im Augenblick bleibt uns also Organisation nichts anderes übrig, als zumindest die betroffenen Familien in unserer Community so gut es geht zu unterstützen.
Eine Herkulesaufgabe, der wir uns offen gestanden zurzeit nur bedingt gewachsen sehen, weil uns schlicht die finanziellen Mittel fehlen. Aber wir müssen helfen. Weil es sonst wirklich niemand tut.

Der historische Hintergrund des Konflikts: Der Grenzkonflikt zwischen Kambodscha und Thailand hat seine Wurzeln in der kolonialen Vergangenheit der beiden Länder: Die Grenzziehung zwischen dem damaligen Siam und Französisch-Indochina wurde in Verträgen zu Beginn des 20. Jahrhunderts festgelegt, blieb jedoch ungenau. Insbesondere rund um den zum UNESCO Weltkulturgut zählenden Preah-Vihear-Tempel im Dângrêk-Gebirge. 1962 sprach der Internationale Gerichtshof (IGH) den Tempel Kambodscha zu, was Thailand bis heute nur begrenzt akzeptiert. Wiederholt kam es bereits in der Vergangenheit zu bewaffneten Zusammenstössen, vor allem zwischen 2008 bis 2011.
Im Mai 2025 eskalierte der Konflikt erneut, nachdem ein kambodschanischer Soldat bei einem Vorfall in der Grenzregion getötet wurde. Beide Seiten mobilisierten Truppen. Es folgten Grenzschliessungen, Handelsstopps, gegenseitige Drohungen und eine nationalistisch aufgeladene Berichterstattung in den Medien. In mit Waffengewalt ausgetragenen Gefechten zwischen dem 24. und 28. Juli wurden je nach Quelle zwischen 32 und 43 Menschen getötet. Die meisten waren Zivilistinnen und Zivilisten.
Am 28. Juli 2025 konnte durch Vermittlung Malaysias ein brüchiges Waffenstillstandsabkommen erreicht werden. Anfang August begannen die bilateralen Gespräche mit internationalen Beobachtern, bei denen aktuell noch viele Streitpunkte offen sind. Etwa die Rückgabe kambodschanischer Gefangener und die endgültige Klärung mehrerer umstrittener Grenzabschnitte.